In dem vorliegenden Fall war die Aktiengesellschaft insolvenzreif. Stellt der Aufsichtsrat die Insolvenzreife fest, so hat er darauf hinzuwirken, dass der Vorstand rechtzeitig einen Insolvenzantrag stellt und keine Zahlungen leistet, die mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters eines Unternehmens unvereinbar sind. Verstößt der Aufsichtsrat gegen diese Sorgfaltspflicht schuldhaft, kann er der Gesellschaft gegenüber zum Schadenersatz verpflichtet sein.
In der Entscheidung machte der Insolvenzverwalter gegen den Aufsichtsratsvorsitzenden Schadensersatzansprüche aufgrund der folgenden Umstände geltend:
In der Aufsichtsratsitzung einer Aktiengesellschaft vom 31. Oktober 2001 war die Insolvenzreife für den Aufsichtsrat bereits erkennbar. Am 19. November 2001 zahlte die Gesellschaft an eine Werbeagentur dennoch DM 100.000. Am 31. Dezember 2001 stand anhand des vorläufigen Jahresabschlusses zum 31. Dezember 2001 die Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft fest. In der Zeit vom 14. Januar bis 18. Februar 2002 zahlte das Unternehmen weitere rund EUR 153.000, an den Aufsichtsratsvorsitzenden mit dem Tilgungszweck: "Rückzahlung Gesellschafterdarlehen".
Zirka sechs Monate danach wurde am 15. August 2002 über das Vermögen der Aktiengesellschaft das Insolvenzverfahren eröffnet.
Das Gericht stellte klar, dass der vorläufige Jahresabschluss eine indizielle Bedeutung hat. Ergibt sich hieraus ein nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag, so ist der Aufsichtsrat zur weiteren Prüfung verpflichtet. Das Zahlungsverbot ergibt sich für eine Aktiengesellschaft aus § 92 Abs. 2 Satz 1 AktG, für eine GmbH aus § 64 Abs. 2 GmbHG a.F. bereits ab Eintritt der Insolvenzreife, und nicht erst nach Ablauf der Insolvenzantragsfrist. Auch wenn sich das Zahlungsverbot nur an den Vorstand als dem geschäftsleitenden Organ der AG richtet, so haftet der Aufsichtsrat aber bei Verletzung von Informations-, Beratungs- und Überwachungspflichten. Er muss sich ein genaues Bild von der wirtschaftlichen Situation der Gesellschaft verschaffen und insbesondere in einer Krisensituation alle ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen ausschöpfen. Stellt er die Insolvenzreife fest, so hat er darauf hinzuwirken, dass der Vorstand rechtzeitig einen Insolvenzantrag stellt und keine Zahlungen mehr leistet, die mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters unvereinbar sind. Erforderlichenfalls muss er ein ihm unzuverlässig erscheinendes Vorstandsmitglied abberufen. Dem Aufsichtsrat obliegt die Beweislast dafür, dass er seine Sorgfaltspflichten erfüllt hat oder dass ihn jedenfalls an der Nichterfüllung kein Verschulden trifft.
Er ist grundsätzlich verpflichtet, Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegen Vorstandsmitglieder geltend zu machen, sofern nicht ausnahmsweise eine rechtliche und wirtschaftliche Prüfung zum Ergebnis kommt, dass die Durchsetzung der Forderung nicht angezeigt ist.
Anmerkungen:
Die Entscheidung hat grundlegende Bedeutung auch für fakultativ gebildete Aufsichtsratsmitglieder einer GmbH. Denn der BGH hat zum einen die Pflicht zum Handeln des Aufsichtsrates zeitlich weit nach vorne verlagert. Sobald die Insolvenzreife, regelmäßig mit Vorlage des vorläufigen Jahresabschlusses erkennbar ist, beginnt bereits die Pflicht zur eingehenden Prüfung durch den Aufsichtsrat. Zum anderen stellt das Gericht klar, dass der Aufsichtsrat verpflichtet ist, den Vorstand zu verklagen, wenn die Voraussetzungen für eine schuldhafte Pflichtverletzung des Vorstandes gegeben sind.
Die Entscheidung gewinnt bereits dadurch an Schärfe, weil Unternehmen nur in 1% der Fälle einen Insolvenzantrag wegen drohender Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) stellen. (Fundstelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 2, R4 vom 1. Dezember 2008). Zumeist wird die gesamte Haftungsmasse aufgezehrt, bevor insolvenzrechtliche Maßnahmen ergriffen werden.
Autor: Bertrand H. Prell, Rechtsanwalt & Solicitor
Aufsichtsrat Führungskräfte /Aufsichtsräte